Nachdenken über Soldaten: Welche Erinnerungen weckt der Krieg in der Ukraine? (2023)

Soldaten wohnen mehr und mehr in unseren Köpfen, besetzen sie, wie auch andere Räume: Territorien, Zeitungsseiten, soziale Medien. Berichte und Meinungen fordern Parteinahmen, der Krieg in der Ukraine ist allgegenwärtig. Gespenster vergangen geglaubter Zeiten erfreuen sich neuer Beliebtheit, sie entsteigen dem gemeinsamen, immer noch fruchtbaren Schoß des Nationalismus, nennen sich Patriotismus, Vaterlandsliebe, Heimat, Identität, Heldentum, Diplomaten schüren Hass.

Der Aggressor mit seinen Wahnvorstellungen eines großrussischen Imperiums unter seiner uneingeschränkten Führung wähnt sich vom Westen bedroht, zu Recht, wenn er das ansteckende Beispiel einer keineswegs idealen, aber dennoch freien, demokratischen, kritischen und selbstbewussten Gesellschaft meint. Bedroht wie seine sowjetischen Vorgänger, die 1953 in Berlin, 1956 in Budapest, 1968 in Prag die ansteckende Krankheit freier Selbstbestimmung mit ihren Panzern erstickten.

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Ukraine

24.01.2023

Unter die sich wehrenden Ukrainer mischen sich ukrainische Nationalisten, die vergangene Verbrechen in Ruhmestaten verkehren. Für Putin ein willkommener Anlass, das Schreckgespenst einer faschistischen Bedrohung an die Wand zu malen, von der er die Ukrainer befreien müsse. Schrecklich sind die Folgen dieser „Befreiung“, sind Tod und Verwüstung in Mariupol heute, doch rechtfertigen sie, die dort unter deutscher Initiative gestern ermordeten 12.000 Juden zu vergessen? Welche Demokratie, welche gemeinsamen Ideale verteidigen die Freunde Banderas? Homophobie, Abtreibungsverbote, Xenophobie, Werte, die sich in Polen und Ungarn erfolgreich durchsetzen?

Die Aktualität weckt in mir verschiedene, widersprüchliche Erinnerungen. In meinen Ohren erklingt der Kanonensong aus der 1928 im Berliner Theater am Schiffbauerdamm uraufgeführten „Dreigroschenoper“. Ich entdeckte dieses Theater für mich als Schüler in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Bertolt Brecht lässt den Räuber Macheath und den Polizeipräsidenten Braun sich an ihre gemeinsame Jugendzeit, ihre ruhmreiche, koloniale Militärzeit erinnern.

„John ist gestorben und Jim ist tot/Und Georgie ist vermißt und verdorben/Aber Blut ist immer noch rot/Und für die Armee wird jetzt wieder geworben!/Soldaten wohnen/Auf den Kanonen/Vom Cap bis Couch Behar/Wenn es mal regnete/Und es begegnete/Ihnen ’ne neue Rasse/’ne braune oder ’blasse/Da machen sie vielleicht daraus ihr Beefsteak Tartar.“

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„Dreigroschenoper“ im Hamburger St.-Pauli-TheaterChristian Charisius/dpa

Aufbauende Rückblicke

Das Lied von der Lust am Morden, am Zerstören vermengt sich in meiner Erinnerung mit seinem Gegenteil, dem Genuss schöpferischer Tätigkeit. 1964 (im Geburtsjahr meiner Tochter Rahel) feierte man in der DDR, wenn auch bescheiden, den 400. Todestag von Michelangelo Buonarroti. Einem italienischen Architekten, Mario S., Sohn einer französischen Mutter, der sich um kulturelle Beziehungen zwischen der DDR und seinem Land verdient gemacht hatte, wurde der Wunsch erfüllt, Stätten des Bauhauses zu besichtigen, Kollegen aus der DDR zu treffen.

(Video) UKRAINE-KRIEG: Ausbildung am Marder - Ukrainische Soldaten treffen in Deutschland ein | WELT Stream

Ein Chauffeur und ein Dolmetscher, in dem Fall für Französisch, wurden ihm zur Verfügung gestellt, ein in Frankreich aufgewachsener Student – ich. Die Rundreise konnte beginnen. Wir waren in Dresden, in Leipzig, in Weimar – einschließlich Buchenwald, wo die Lettern des berüchtigten „Jedem das Seine“ am Eingangstor vom Häftling und Bauhausabsolventen Franz Ehrlich entworfen worden waren.

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24.01.2023

In den 1950er-Jahren entwarf dieser das Funkhaus in der Nalepastraße in Berlin, die Studios, in denen ich regelmäßig für Radio Berlin International Sendungen auf Französisch aufgenommen habe, die vor allem nach Afrika gesendet wurden. Franz Ehrlich war in der DDR ein gefragter Architekt, auch Entwerfer einer beliebten Möbelserie, zugleich wurde er, der dem Bauhaus immer treu blieb, als Formalist kritisiert. Ein ehemaliger Häftling führte uns durch das frühere KZ, wir blieben nicht bei der Inschrift über dem Lagertor stehen.

Zunächst gedacht für deutsche Kommunisten, Sozialdemokraten, Homosexuelle, Juden, Zeugen Jehovas, Freimaurer und Kriminelle, die vornehmlich als Kapo fungierten, wurden mit Beginn des Zweiten Weltkrieges zunehmend Ausländer interniert. Sowjetische Kriegsgefangene wurden unmittelbar nach ihrem Eintreffen in der Genickschussanlage erschossen, ihre Zahl schätzt man auf 8000. 1944 richtete die SS ein Bordell für „fremdvölkische“ Wachmänner ein.

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16.04.2022

Den ukrainischen SS-Männern war der Verkehr mit deutschen Frauen verboten. Die SS holte dafür polnische Frauen aus dem KZ Ravensbrück. Bei der Befreiung des Lagers im April 1945 waren 95 Prozent der Häftlinge keine Deutschen. Von Weimar und Buchenwald fuhren wir weiter nach Dessau, begleitet von Karin M., einer Dozentin an der dortigen Hochschule.

Während der Fahrt interessierte sich Mario besonders für die Haltung der DDR zum Bauhaus und für dessen Wirkung. Beides, erklärte Karin, die Wirkung in der DDR und das Verhältnis der DDR zum Bauhaus, habe Höhen und Tiefen gekannt, die von der internationalen Lage, dem Kalten Krieg und auch dem Einfluss der Sowjetunion abhingen. In den ersten Nachkriegsjahren kehrten emigrierte Bauhäusler in den Osten Deutschlands, in die Sowjetische Besatzungszone zurück, aus politischer Entscheidung und weil das Bauhaus vor 1933 vor allem in diesem Teil des Landes aktiv gewesen war, wenn auch nicht unter den, milde gesagt, besten Bedingungen.

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Walter Gropiuspiemags/imago

Unerwünschte westliche Werte

Im August 1947 besuchte Walter Gropius Berlin, die Presse der SBZ berichtete ausführlich, die Berliner Zeitung zitierte seine Gedanken: „Das Bauhaus könnte gerade heute für den Neubau einer bescheidenen und doch formschönen Wohnkultur eine segensreiche Rolle spielen.“ Doch aus der angekündigten und von vielen Seiten begrüßten Wiedereröffnung des Dessauer Bauhauses wurde seinerzeit nichts. 1948 griff die in Moskau geführte Formalismus-Diskussion auf die DDR über.

Auf dem 5. Plenum ihres Zentralkomitees vom 17. März 1951 fasste die SED einen Beschluss unter dem Titel: Kampf gegen Formalismus in Literatur und Kunst für eine fortschrittliche deutsche Kultur. Walter Ulbricht veranschaulichte in seiner Rede vor der Volkskammer der DDR am 31. Oktober 1951, was darunter zu verstehen war: „Wir wollen in unseren Kunstschulen keine abstrakten Bilder mehr sehen. Wir brauchen weder die Bilder von Mondlandschaften noch von faulen Fischen. Die Grau-in-Grau-Malerei, die ein Ausdruck des kapitalistischen Niedergangs ist, steht im schroffsten Widerspruch zum heutigen Leben in der DDR.“

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24.10.2022

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Den „Bauhausstil“ verurteilte er als „volksfeindliche Erscheinung“. Am 8. Dezember 1951 benutzte er schließlich die Eröffnung der Deutschen Bauakademie, um im Bauhaus „ein waschechtes Kind des amerikanischen Kosmopolitismus“ zu erkennen, dessen „Überwindung unerlässliche Voraussetzung für die Entwicklung einer neuen deutschen Baukunst“ sei.

Wie muss sich der ehemalige Bauhaus-Architekt Richard Paulick gefühlt haben, der in die Leitung dieser Akademie berufen worden war? Ja, sagte Karin, viele Bauhäusler waren in die USA emigriert, wie Gropius, hatten dort die Ideen des Bauhauses verbreitet, die moderne Architektur beeinflusst. Und in den Westzonen Deutschlands machte sich beim Neuaufbau nach 1945, über die USA vermittelt, dieser Einfluss bemerkbar. Doch was für ein Missverständnis, in dieser Architektur, die in ihrem Ursprung von sozialistischen Ideen getragen war, etwas gegen den Sozialismus Gerichtetes zu sehen.

Was für verpasste Chancen! Was für ein Widerspruch! Eine Bewegung, die sich als revolutionär versteht, also mit dem Gestrigen, Überholten brechen will, lehnt die Moderne ab, macht sie zu einer Waffe des Feindes. Karin war bei diesem Gedanken sichtlich bewegt, sie rang nach Worten, um ihren Zorn und ihre Enttäuschung zu artikulieren, kam jedoch nicht mehr dazu, weiter vom Pfad der ideologischen Korrektheit abzuweichen.

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West-Berlin 1957: Walter-Gropius-Haus im HansaviertelH. Blunck/imago

Abruptes Ende

Der Wagen bremste scharf. Wir fuhren im Schritttempo weiter und kamen nach etwa einem Kilometer zur Ursache des Staus. Quer über der Straße stand ein Panzerspähwagen, das Maschinengewehr auf die entgegenkommenden Wagen gerichtet. Uniformierte mit Stahlhelm und Maschinenpistolen im Anschlag umringten das Auto, forderten uns auf, die Scheiben herunterzulassen, verlangten unsere Papiere. Er forderte den Fahrer auf, auszusteigen und den Kofferraum zu öffnen. Meine Frage, wen oder was sie denn suchten, überhörte er geflissentlich und forderte uns auf, langsam weiterzufahren.

Nach etwa einer Viertelstunde stießen wir auf die nächste Sperre. Dasselbe Prozedere, die kontrollierenden Soldaten waren sichtlich nervös. Einer von ihnen war bereit, mir Auskunft zu geben. Er raunte mir leise zu: „Zwei russische Deserteure bewegen sich hoch bewaffnet Richtung Westgrenze.“ Ich übersetzte die Auskunft für Mario, wir fuhren weiter, es dauerte lange, bis jemand ein Wort sagte. Uns lähmte die Angst vor den Deserteuren, die plötzlich vom Straßenrand auf uns zuspringen, uns mit vorgehaltenen Maschinenpistolen zwingen könnten, auszusteigen oder mit ihnen weiterzufahren, vielleicht mit unseren Papieren, unserer Kleidung, die in das Auto steigen könnten, sich verstecken, uns zwingen, sie zur Grenze zu fahren.

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22.11.2022

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Ukraine

17.01.2023

Wir fuhren Richtung Westen, die Grenze nach Westdeutschland war nicht weit. Wir dachten auch an die zwei unbekannten jungen Männer, die ihr Leben riskierten, ihr Leben und das anderer, die irgendwo da draußen waren, gejagt wurden, warum, wozu? Ich hatte ein wenig von den Bedingungen gehört, unter denen sie in Deutschland lebten. Sie absolvierten einen dreijährigen Wehrdienst, fern von ihrer Heimat, ihren Familien, ihren Bräuten, in abgelegenen Kasernen, versteckt in unzugänglichen Wäldern, mit einem lächerlichen Taschengeld, harten, auch körperlichen Strafen bei Disziplinverstößen. 400.000 bis 500.000 waren sie, genauere Zahlen gab es nicht.

In der offiziellen Sprache hießen sie die ruhmreichen Sowjetsoldaten, doch ihr Leben hatte nichts von Siegern, nicht mal von Besatzern. Kein Vergleich mit den amerikanischen, britischen und französischen Militärs im Westen Deutschlands. Mir fiel auf, dass der Soldat der NVA nicht von „zwei Sowjetsoldaten“ gesprochen, sondern „zwei Russen“ gesagt hatte.

Ich wusste nicht, ob ich mit den zwei Unbekannten Sympathie empfinden sollte, ihnen wünschen sollte, ihr Ziel zu erreichen. „Hoch bewaffnet“ schloss Granaten ein, vielleicht gar eine Panzerfaust RPG 19. Sie waren selbst Opfer einer Geschichte, die weit über sie hinausging, und zugleich potenzielle Mörder. So war ich in meine Gedanken vertieft, stand unter dem Schock dieser unerwarteten Begebenheit, die uns weit weg vom Bauhaus geführt hatte. Zwei Russen … Waren sie tatsächlich Russen, die ruhmreichen Sowjetsoldaten? Oder Tadschiken, Usbeken, Weißrussen, vielleicht auch Ukrainer?

Vincent von Wroblewsky ist ein deutscher Philosoph, Autor und Übersetzer. Im April 2023 wird sein autobiografischer Text „Vermutlich Deutscher“ im Merlin Verlag, Gifkendorf, erscheinen.

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Author: Mr. See Jast

Last Updated: 02/08/2023

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